Sind Verspätungen ab drei Stunden auch in der Schweiz ausgleichsberechtigt?

Zusammenfassung: Unser Team beschäftigt sich seit Monaten mit der Frage, ob einem nach einer starken Verspätung ebenfalls eine Ausgleichszahlung zusteht. In den EU-Ländern ist dies unbestritten der Fall, in der Schweiz dagegen gibt es verschiedene Meinungen hierzu. Das cancelled.ch-Team versucht die Hintergründe dieser Unklarheit nachfolgend auf verständliche Weise darzustellen.


Gemäss EU-Fluggastrechteverordnung 261/2004 sind nur Annullationen und Nichtbeförderungen ausgleichsberechtigt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im sogenannten Sturgeon-Urteil 2009 jedoch entschieden, diese Regelung auf Verspätungen ab drei Stunden auszuweiten. Der Grund liegt auf der Hand: Wird mein Flug annulliert und erhalte ich ein paar Stunden später einen Ersatzflug, kommt das für mich auf dasselbe heraus, wie wenn sich mein ursprünglicher Flug direkt um viele Stunden verspätet hätte. Vor 2009 gab es im Übrigen immer wieder Fälle, in denen Flüge mit mehr als 20 Stunden Verspätung durchgeführt wurden.

Seit diesem Sturgeon-Urteil hat man nun also in Fällen von Verspätungen über drei Stunden ebenfalls Anspruch auf € 250 bis € 600 (je nach Flugdistanz). Vor allem Schweizer Airlines weigern sich aber so gut wie immer, diese Beträge auszuzahlen. Weshalb dem so ist, möchten wir nachfolgend aufzeigen:

EuGH-Urteile und somit auch das erwähnte Sturgeon-Urteil sind in der Schweiz nicht verbindlich. Da die Schweiz die EU-Fluggastrechteverordnung jedoch übernommen hat, orientieren sich Schweizer Gerichte bei Fragen diesbezüglich sinnvollerweise an den EuGH-Urteilen. Dazu wurden sie vom Bundesgericht gar verpflichtet. Dieses hielt fest, dass von einschlägigen EuGH-Urteilen nur dann abgewichen werden sollte, wenn dies infolge triftiger Gründe gerechtfertigt erscheint.

Der Hauptzweck der EU-Fluggastrechteverordnung liegt in der Stärkung der Konsumentenrechte und in einer internationalen Harmonisierung der Schutzrechte. Es ist folglich sehr schwierig und bedarf viel Kreativität, allfällige triftige Gründe zu finden, weshalb Schweizer Flugpassagiere schlechter gestellt werden sollten als jene aus der Europäischen Union.

Weshalb stellen sich die Fluggesellschaften bei Flügen von und in die Schweiz dennoch auf den Standpunkt, dass ihnen keine Verpflichtungen zukämen? Ganz einfach; sie haben wenig Interesse, viel Geld auszugeben und Passagiere adäquat zu entschädigen. Das Absurde an der Geschichte: Wenn ich beispielsweise einen stark verspäteten Flug von Zürich nach Wien habe, könnte ich theoretisch auch in Wien klagen. Die dortigen Gerichte würden eine Klage mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gutheissen, da die Gerichte dort dem Sturgeon-Urteil folgen müssen.

Die Situation ist also ziemlich verzwickt, speziell weil das Bezirksgericht Bülach in der Vergangenheit solche triftigen Gründe gefunden zu haben schien. In Tat und Wahrheit hat es jedoch nur eine eigene Auslegung vorgenommen. Hierbei spielte die Wichtigkeit der oben genannten Ziele und des Sturgeon-Urteils generell eine untergeordnete Rolle. Ausserdem wurde die Auslegung nach den Grundsätzen des Schweizer Rechts vorgenommen, anstatt nach jenen des eigentlich anwendbaren Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge. Bedauerlicherweise hat noch niemand ein solches Urteil weitergezogen. Unseres Erachtens wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass höherrangige Instanzen tendenziell europakompatibler und somit konsumentenfreundlicher auslegen würden. Je nach Umständen wird cancelled.ch als Verfechter der Schweizer Fluggastrechte einen solchen Prozess initiieren und auf diese Weise gegebenenfalls zu einer konsumentenfreundlicheren Praxis beitragen.

Last but not least ist jedoch erfreulicherweise anzufügen, dass die aktuelle EU-Fluggastrechteverordnung revidiert wird. Aufgrund des Brexits hat sich dieser Prozess etwas verzögert. Die revidierte Version wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die Ausgleichszahlung für starke Verspätungen beinhalten. Somit würde sodann auf diese Weise Klarheit geschafft und die Rechte von Schweizer Konsumenten/-innen wären wieder auf dem aktuellen Stand.

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